Der Tschernobyl Weg

logo_radioaktiv_bunt

Tschernobyl-Charta*

In Solidarität mit den Menschen in den verstrahlten Gebieten von Tschernobyl,

  • voll Sorge um Gesundheit und Leben der Kinder,
  • aus Verantwortung für eine menschenwürdige Zukunft,
  • verbunden vor allem über die Belarussische Gemeinnützige Stiftung »Den Kinder von Tschernobyl« mit der belarussischen Bürgerbewegung,
  • vernetzt über regionale und nationale Netzwerke weltweit im Internationalen Rat »Für die Zukunft der Kinder von Tschernobyl«

leiten uns sieben gemeinsame Grundüberzeugungen:

1. Die Wahrheit sagen

Tschernobyl verstehen wir als bleibende Herausforderung für Europa, die Welt, die Menschheit. Wir wenden uns entschieden gegen alle Versuche, Tschernobyl für beendet zu erklären, zu verharmlosen, zu verdrängen und vergessen zu machen.

Die Vollversammlung der UNO hat unter dem Eindruck von Tschernobyl am 21.12. 1990 folgende Resolution 45/190 an die Staaten der Weltgemeinschaft beschlossen:

»Die Vollversammlung der Vereinten Nationen
  • ist tief beunruhigt über die dauernde Beeinträchtigung des Lebens und der Gesundheit der Menschen durch die Tschernobylkatastrophe, die schwere nationale und internationale Folgen beispiellosen Ausmaßes hatte;
  • ist besonders beunruhigt über den Gesundheitszustand von Kindern, die unter Bestrahlung gelitten haben und leiden, sowie über mögliche Spätfolgen der Bestrahlung auftreten können;
  • appelliert an alle Staaten der Weltgemeinschaft, zwischenstaatliche und bürgerliche Organisationen (…) weitere nötige Hilfe und Unterstützung den am meisten verseuchten Gebieten zu leisten.«

Heute, mehr als ein Jahrzehnt nach Tschernobyl werden die Folgen für die Gesundheit der Menschen mehr und mehr sichtbar. Wir erleben jedoch, wie die Informationen über Tschernobyl, die Gesundheit der Menschen, die radioaktive Belastung der Menschen und der Nahrungsmittel in der Republik Belarus, die mehr als 70% des radioaktiven Niederschlages von Tschernobyl erhielt, auf nationaler Ebene wie auch international erneut massiv unterdrückt, manipuliert und verharmlost werden.

Viele Menschen aus aller Welt haben in den vergangenen Jahren Belarus besucht und kennen die Situation der Betroffenen. Sie sind zu menschlichen Experten von Tschernobyl geworden. Sie wissen, es bedarf großer internationaler Anstrengungen, um die nach wie vor ungelösten technischen und medizinischen Probleme anzugehen sowie den ökonomischen Folgen zu begegnen.

Aber Wissenschaft und industrielle Großtechnik müssen sich der Aufklärung über die Reichweite ihres Tuns stellen, d h. ihre Grenzen an den Menschen akzeptieren, die die Folgen zu tragen haben.

Welche Verantwortung kann und muß übernommen werden? Eben auf diese Frage haben unzählige Menschen auf ihre Weise geantwortet durch mitmenschliche Humanität und eigene Verantwortung. Beides ist im Blick auf Tschernobyl von größter Bedeutung, weil die menschlichen Folgeprobleme unendlich groß sind bis hin zum drohenden Genozid.

So läßt sich die Gesamtthematik nicht auf einzelne Teilprobleme beschränken. Versuche, in dieser Weise Tschernobyl zu entsorgen, sind in Öffentlichkeit und Politik vielfältig zu beobachten.

Gestellt ist für jede/n die umfassende Frage nach der Verantwortung für das Leben, die Zukunft eines ganzen Volkes, wenn nicht der Menschheit, nach Schritten mitmenschlichen Hilfe und Solidarität und gemeinsamen Perspektiven.

Menschen in aller Welt haben auf den Hilferuf der »Kinder von Tschernobyl« spontan und unmittelbar reagiert. Sie haben die Kinder zur Erholung ins Ausland eingeladen, um jetzt und sofort zu helfen. das Immunsystems der Kinder zu stärken und den Kindern beizustehen. Mehr als 100.000 Kinder konnten in den letzten Jahren allein über die Stiftung »Den Kindern von Tschernobyl« ins Ausland reisen. Was so spontan begann und von unmittelbarer Humanität zeugt, hat ungeahnte Folgen gezeigt:

Die Kinder sind zugleich zur Brücke geworden:

  • Zur Brücke für humanitäre Hilfe aller Art. Sie wird um so wichtiger, als die ökonomischen und sozialen Probleme in Belarus zunehmen. Die unmittelbare Begegnung mit den Kindern löst einen Strom humanitärer Hilfe aus und ermöglicht erst viele Projekte im Land. Immer wieder aber wird versucht, über die Kosten-/Nutzenfrage die Kindererholungsreisen zu diskreditieren und ihnen andere humanitäre Projekte gegenüberzustellen. Übersehen wird, was die Kindererholungsreisen für die Kinder selbst und für die beteiligten Menschen hüben und drüben bedeuten.
  • Zur Brücke der Verständigung. Durch die Kinder entstehen über Grenzen hinweg zahllose Kontakte, Partnerschaften, Freundschaften. Über die Kinder kommt es zu einer neuen völkerverbindenden Verständigung in einem zerrissenen Kontinent. Über die Kinder geschieht in einzigartiger Weise Versöhnung angesichts der deutschen Vernichtungs- und Schuldgeschichte. Es gibt jedoch zahlreiche Versuche, eben diese Verständigung zu unterbinden, angefangen mit der These vom »Kulturschock« bis hin zu administrativen Behinderungen und gewaltsamen Einschränkungen.
  • Zur Brücke in die Zukunft. Jedes Kind bringt eine »Botschaft« mit, die lautet: »Ich will leben.« Es erinnert daran, wie gefährdet die Zukunft für alle ist. Wie jedoch das Thema Tschernobyl so sollen auch die Zeugen und Boten verschwinden, verdrängt und vergessen werden.

Durch die Kinder sind unzählige Partnerschaft entstanden, von Familie zu Familie, von Schule zu Schule, von Ort zu Ort. So sind die Kinderreisen in ein bewußtes, längerfristiges Partnerschaftskonzept eingebettet. Für die Kinder bedeutet dies, daß bei den Kinderreisen der soziale Zusammenhang gewahrt wird, die Kinder in ihrer vertrauten Gruppe bleiben, sich die Eltern und Gasteltem kennen und sich die Verantwortlichen miteinander abstimmen können.

Humanitäre Hilfe wird auf diese Weise zur humanitären Zusammenarbeit mit dem Ziel der Selbsthilfe und gemeinsamer Projekte. Sie fordert partnerschaftliches Umgehen miteinander und partnerschaftliche Verantwortung auf beiden Seiten. Sie bewirkt, daß eine paternalistische Geber- und Nehmermentahtät durchbrochen wird. Sie bewahrt davor, daß Hilfe neue Abhängigkeiten schafft oder gar zur »tödlichen Hilfe« verkommt.

Durch Tschernobyl und mit den Partnerschaften sind viele unabhängige Initiativen hier und dort entstanden und haben sich regional, national und international vernetzt. Sie bilden heute eine Ost-West-übergreiffende Tschernobylbewegung, die — als Nichtregierungsorganisation (NGO) und nicht profitorientiert – eine freie Bürgerbewegung der Zivilgesellschaft darstellt. Partnerin auf belarussischer Seite ist vor allem die Belarussische gemeinnützige Stiftung »Den Kindern von Tschernobyl«. Zu ihr zählen Tausende Menschen in allen Gebieten von Belarus. Es ist ein internationales Netz entstanden — der »International Council for the Future of the Children of Chernobyl«. Es verbindet weltweit Initiativen aus fast 20 Ländern. In Deutschland zählen sich mehr als 250 Initiativen der Bundesarbeitsgemeinschaft »Den Kindern von Tschernobyl« zugehörig.

Jede Gruppe arbeitet selbständig, unabhängig und selbstverantwortlich, nach ihren Möglichkeiten. Das macht die große Vielfalt der Tschernobylbewegung aus und wird dem Umstand gerecht, daß es auf Tschernobyl keine einfachen Antworten gibt.

Was alle aber verbindet, ist der Wille zur Zusammenarbeit. Sie besteht in gegenseitiger Information, in Beratung und Hilfe untereinander, in gemeinsamem Handeln, um den Freiraum der NGO’s zu bewahren oder zu erweitern. Selbsthilfe und Solidarität machen die Stärke unseres Netzes auf allen Ebenen der regionalen, nationale und internationalen Zusammenarbeit aus.

Die Staatengemeinschaft der Vereinten Nationen hat 1989 eine Konvention über die »Rechte der Kindes« beschlossen und 1992 ratifiziert. Darin wird für jedes Kind das Recht auf Leben (§ 6) und auf Gesundheitsvorsorge (§ 24) festgeschrieben. Es heißt in § 24:

»Die Vertragsstaaten verpflichten sich, die internationale Zusammenarbeit zu unterstützen und zu fördern, um fortschreitend die volle Verwirklichung des in diesem Artikel anerkannten Rechts zu erreichen.«

Entsprechend hat das deutsch-belarussische »Memorandum of Understanding« vom 3.3.1994 die Verpflichtung zur Zusammenarbeit und Förderung der Tschernobylinitiativen bekräftigt.

Jede längerfristiges humanitäre Zusammenarbeit – will sie Hilfe zur Selbsthilfe sein, mehr als akute Katastrophenhilfe und nicht zur »tödlichen Hilfe« verkommen – schließt die Achtung vor der Menschenwürde und den Grundrechten der Betroffenen ein. Die Menschenrechte, wie sie in der Allgemeinen Erklärung der Vereinten Nationen 1948 niedergelegt wurden, bilden die Rahmenbedingungen, an denen wir uns orientieren und die wir politisch einfordern.

Wir arbeiten zusammen mit allen Gruppen und Organisationen, die sich für die demokratischen, ökologischen und sozialen Rechte der Menschen engagieren und sind Teil einer umfassenden Menschenrechtsbewegung.

Tschernobyl selbst ist für uns schon Ausdruck äußerster Gewalt und eines Systems der Gewalt. Wir sagen deshalb ein entschiedenes Nein zur Atomkraft, schon das »friedliche Atom« tötet. Viele Menschen haben angesichts der Gewalt Zuflucht genommen zu Resignation und Apathie. Sie haben sich selbst, sowie den Glauben an eine menschenwürdige Zukunft für sich und ihre Kinder aufgegeben.

Die Erfahrungen mitmenschlicher Solidarität und internationaler Hilfe, von Begegnung und Austausch können dazu beitragen, neu Perspektiven und Strukturen einer zivilen Gesellschaft aufzubauen. In ihr wachsen Mut und Hoffnung der Menschen.

Nur eine offene und demokratische Gesellschaft kann sich den Herausforderungen von Tschernobyl stellen. Nur sie gewährleistet die notwendigen Informationen über Tschernobyl. Nur sie setzt die gesellschaftlichen Kräfte frei, die nötig sind.

Termine

Aktuell sind keine Termine vorhanden.

Aktuelles

  • All Posts
  • Teaser
3. November 2020

Tschernobyl besser verstehen Das Buch „Der Tschernobyl-Weg“ besteht aus zahlreichen Interviews und Monologen mit den Gleichgesinnten und Mitstreitern der Stiftung von Gennadij Gruschewoj. Wie ein roter Faden zieht sich durch…

1. Oktober 2019

Netzwerke und Kooperationen für Belarus In diesem Jahr wurde das zweitägige Treffen vom Verein „Freu(n)de für Belarus“ im Pfarrheim Heimbach-Weis durchgeführt. Der Verein realisiert erfolgreich seit seiner Gründung im Jahr 2011 konkrete…

13. April 2019

Tschernobyl geht immer weiter 13.04.2019 10:02 Von Swetlana Alexijewitsch stammt der Satz, dass die Menschen Tschernobyl bis heute nicht verstanden haben. Wie auch? Es ist nicht einfach ein „historisches“ Katastrophendatum,…